In Deutschland gilt bis heute Paragraf 173 des Strafgesetzbuchs, der „Beischlaf zwischen Verwandten“ unter Strafe stellt. Das gilt auch für den Sexualverkehr unter volljährigen Geschwistern. Das könnte jetzt kippen, nach der Beschwerde von Patrick S. Er hat mit seiner Schwester vier Kinder und saß wegen dem Delikt drei Jahre im Gefängnis.
Sollten die Europäischen Rechtshüter tatsächlich den Paragrafen 173 zu Fall bringen wären das gleich die dritte Rechtsnovellierung in Folge. Zuvor prangerten sie Deutschland an, weil Polizisten dem Kindermörder Magnus Gäfgen während der Vernehmung mit Folter gedroht hatten. Ein anderes Mal rügten sie die Praxis der rückwirkenden Sicherungsverwahrung und verhalfen etlichen Schwerverbrechern in die Freiheit.
Interessant: wenn in der Schweiz das Thema Mitgliedschaft in der EU aufkommt dann wird vor allem dies thematisiert; dass man nicht mehr Herr im eignen Haus ist und von aussen die Gesetze aufdiktiert bekommt. Ich meine, ich halte eine Gefängnisstrafe bei Inzest auch für überzogen, aber eine Änderung müsste aus dem deutschen Rechtsempfinden heraus initiiert und umgesetzt werden. Sonst agiert der EGH bald wie der Euro; Aufgesetzt, vereinheitlichend, künstlich ohne den regionalen Bedürfnissen entsprechend.
Die Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren nach Verbüßung der Strafe war einfach mit heißer Nadel gestrickt. Rechtsstaatlich nicht haltbar. Insoweit ist die Rechtsprechung des EUGH ein wichtiges Regulativ. Das heißt ja nicht, dass gefährliche Gewalttäter frei rumlaufen sollen.
Würde die EU diese bescheuerten Inzest-Verbote beseitigen, hätte sie in diesem Fall ja mal für Liberalisierung/Freiheit gesorgt. Denn was gehts den Staat an, wer mit wem poppt.
Zitat von Lafo Das heißt ja nicht, dass gefährliche Gewalttäter frei rumlaufen sollen.
Doch genau heisst das. Der EGH hat dafür gesorgt, dass jeder also auch nicht therapierbare Gewaltverbrecher nach der Verbüssung der Strafe frei gelassen werden muss.
Zitat: Doch genau heisst das. Der EGH hat dafür gesorgt, dass jeder also auch nicht therapierbare Gewaltverbrecher nach der Verbüssung der Strafe frei gelassen werden muss.
Nein, das heißt es nicht. Jeder dieser Straftäter war vorher in der Hand eines Gerichtes - das hat ein Urteil gefällt. Und das Gericht hat nach den Gesetzen entschieden die der Deutsche Bundestag in Zusammenwirken mit dem Bundesrat für anwendbar erklärt hat. Einer der unabdingbaren Rechtsgrundsätze heißt dass es keine Strafe ohne das entsprechende Gesetz gibt. Der Fehler ist also nicht vom EUGH verübt worden - es sind unsere schludrig gemachten Gesetze und deren manchmal sehr "sanfte" Anwendung die Du anprangern solltest.
Und es ist außerdem noch die Praxis in den Ländern Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben einfach ohne Urteil weiter im normalen Strafvollzug zu belassen. Ich vermute mal (ich weiß ich bin viel zu gutgläubig) dass es eine ganze Anzahl von Prozessen gegen diese Praxis wahrscheinlich garnicht gegeben hätte, und ich bin überzeugt dass der EUGH anders entschieden hätte wenn diese Menschen nicht im normalen Strafvollzug verblieben wären sondern in eine andere Lebensform mit Therapie etc überführt worden wären.
Schönen Abend WRL
"Glückliche Sklaven sind die größten Feinde der Freiheit!" Marie von Ebner-Eschenbach “Politiker sind wie Windeln. Man muss sie oft wechseln und das aus denselben Gründen.” (Mark Twain)
Zitat von WRL (...)und ich bin überzeugt dass der EUGH anders entschieden hätte wenn diese Menschen nicht im normalen Strafvollzug verblieben wären sondern in eine andere Lebensform mit Therapie etc überführt worden wären.
Nein; die nicht therapierbaren Verbrecher sind nach der Verbüssung ihrer Strafe eben nicht im normalen Strafvollzug verblieben sondern wechselten "in eine andere Lebensform", nämlich der Sicherheitsverwahrung. Inwieweit eine Therapie bei Nichttherapierbaren sinnvoll ist kann ich als Laie nicht einschätzen. Aber dass es Sinn macht verschiedene Leute nicht mehr frei zu lassen zeigen die vielen Verbrechen praktisch umgehend nach deren Haftverbüssung und ich fände es wünschenswert wenn man das unterbinden könnte.
Eine andere Seite ist; wenn eine Regelung von der Bevölkerung gewollte und dann eben gelebte Rechtspraxis ist frage ich mich wozu es denn dafür ein Gesetz geben muss (und warum externe Stellen dann eben auf dieses nicht vorhandene Recht drängen).
es ist lange geübte Praxis in D dass die SV an denselben Orten und unter gleichen Bedingungen stattfindet wie der normale Strafvollzug; stell Dir vor Deine Frau sperrt Dich zur Strafe für 2 Monate in die Abstellkammer, wobei Du 1 Stunde am Tag das Fenster öffnen darfst; nach "Verbüssung" Deiner Strafe ist sie großzügig und Du darfst jetzt 2 x 1 Stunde das Fenster öffnen - ist das nicht ein großartiger Unterschied?
Die Bevölkerung hat viele gewollte Regelungen die so nie in Gesetze überführt worden sind und auch nicht werden; Gesetzgeber ist hier der Bundestag, oft in Abstimmung mit dem Bundesrat. Sei froh dass Du in der Schweiz lebst...
Schönen Tag WRL
"Glückliche Sklaven sind die größten Feinde der Freiheit!" Marie von Ebner-Eschenbach “Politiker sind wie Windeln. Man muss sie oft wechseln und das aus denselben Gründen.” (Mark Twain)
In seinem ersten Urteil hat der EUGH nur die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeprangert aus rechtsstaatlichen Gründen. Die zweite "Rüge" bezieht sich darauf, dass die Sicherungsverwahrung nicht hinreichend von normalem Strafvollzug unterschieden werden kann. Die gängige Praxis ist, dass die Sicherungsverwahrten in einem eigenen Trakt des Gefängnisses leben und mehr Privilegien haben als vorher. Trotzdem sitzen sie in den gleichen 8 m²-Zellen und unterliegen nach wie vor strengen Einschränkungen wie Handy- und Internetverbot.
Unter der Prämisse, dass die Sicherungsverwahrung keine Buße sein soll, sondern "nur" der Schutz der Allgemeinheit sind diese Lebensumstände tatsächlich nicht haltbar.
Da machen sich die EUGHeniker aber einen schlanken Fuss. Wer erklärt das dann den Eltern, deren Kinder von nichttherapierbaren Verbrechern missbraucht und getötet werden? Haben die denn keine Rechte?
Zitat von DPDa machen sich die EUGHeniker aber einen schlanken Fuss. Wer erklärt das dann den Eltern, deren Kinder von nichttherapierbaren Verbrechern missbraucht und getötet werden? Haben die denn keine Rechte?
Ich kenne persönlich Leute, die wiederholt und auch trotz Führerscheinentzug besoffen Auto fahren. Von denen dürfte es in Deutschland etliche geben und in Summe sind sie eine weit grössere Gefahr als entlassene Straftäter.
Davon abgesehen hat für mich diese Sicherungsverwahrung schon Ausmasse angenommen, die mit einem Rechtsstaat nicht zu vereinbaren sind. Es wird ja schon Sicherungsverwahrung bei wiederholten Einbrüchen verhängt.
Letztlich ist ein Rechtsstaat an gewisse Regeln gebunden. Eine davon ist bisher, dass man niemand bestraft, der nichts gemacht hat, oder seine Strafe abgesessen hat.
Wie weit will man denn diese Gesinnungsstrafen dann noch treiben ? Der nächste Schritt ist doch dann, Leute schon mal prophylaktisch wegen einer schlechten Prognose einzusperren.
"Ich meine, ich halte eine Gefängnisstrafe bei Inzest auch für überzogen, aber eine Änderung müsste aus dem deutschen Rechtsempfinden heraus initiiert und umgesetzt werden."
Die spannende Frage wäre doch, was denn überhaupt das "deutsche Rechtsempfinden" ist.
Mir wäre das jetzt ziemlich egal, wenn die zusammen glücklich sind. Risiken für Fehlgeburten hat auch jede Raucherin oder Trinkerin und da gibt es auch keine Einschränkungen.
Und viele der deutschen Gesetze basieren immer noch auf Gesetzen des dritten Reiches oder der Zeit davor, die man schlicht nie angefasst hat. Es gibt auch manche Gesetze, die schlicht bescheuert sind und andere, die sich jeder Logik entziehen, teilweise sogar widersprüchlich sind.
Vor allem letztere dürfen meinetwegen gerne von europäischen Gerichten gekippt werden. Denn unsere Richter sind dazu denn doch häufig zu sehr im internen Klüngel verhaftet. Wie z. B. beim Thema Sicherungsverwahrung, was ja vor allem deswegen ein Problem ist, weil es unsere Politiker vergeigt haben.
Mit anderen Worten, für dich ist es in Ordnung wenn eine irgendwie geartete höhere Macht aus Brüssel, Strassburg oder Washington kommt und euch Deutschen erstmal erklärt wie das so zu laufen hat mit dem Recht.
Nun, ich finde diese Haltung für legitim. Hier in CH würden die Leute auf die Barrikaden wenn ihnen jemand ihre Gesetze vorschreiben würde, noch dazu so EU Heinis mit den Füssen in den Wolken. Aber das kann ja jeder für sich entscheiden.
Letztlich ist ein Rechtsstaat an gewisse Regeln gebunden. Eine davon ist bisher, dass man niemand bestraft, der nichts gemacht hat, oder seine Strafe abgesessen hat.
Letztlich muss ein Rechtsstaat aber auch seine Bürger schützen. Macht er nichts dann bestraft er die Opfer, weil er ja weiss, dass es welche geben wird wenn man solche Leute entlässt. Man gibt ja Pädophilen auch nicht gerade den Job des Kindergärtners, auch wenn ihm der verfassungsmässig zustehen würde.
Ich empfehle dazu (da wir schon im Max Frisch Jahr sind): Biedermann und die Brandstifter.
Zitat von DPMit anderen Worten, für dich ist es in Ordnung wenn eine irgendwie geartete höhere Macht aus Brüssel, Strassburg oder Washington kommt und euch Deutschen erstmal erklärt wie das so zu laufen hat mit dem Recht.
Nun, ich finde diese Haltung für legitim. Hier in CH würden die Leute auf die Barrikaden wenn ihnen jemand ihre Gesetze vorschreiben würde, noch dazu so EU Heinis mit den Füssen in den Wolken. Aber das kann ja jeder für sich entscheiden.
Vermutlich habe die Schweizer schlicht mehr Vertrauen in ihre Institutionen. Die deutschen Politiker werden ja nun schon fast im Monatsrythmus wegen grundgesetzwidriger Gesetze verurteilt. ohne dass sich auch nur ansatzweise was ändert. Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden zunehmend schlicht ignoriert oder allenfalls soweit angewandt, dass man gerade so an einer weiteren Verurteilung vorbeizuschrammen hofft. Und das letztlich parteienübergreifend.
Da bin ich schon ganz froh, dass es eine Instanz gibt, die man nicht so einfach ignorieren kann.